Was ist ein Psychoseseminar?

Hans Wühr

Ein Psychoseseminar (Trialogforum / Psychoseforum) ist ein Ort der Begegnung von Betroffenen, Angehörigen und Profis, also von Experten aus eigener Erfahrung, Experten aus Miterfahrung und Experten durch Ausbildung und Beruf. Diese Idee des sogenannten Trialogs hat sich erweitert – mit Konsequenzen für das Verständnis seelischer Gesundheit überhaupt und für den Umgang miteinander auf allen Ebenen – in Psychiatrie, Öffentlichkeit, Kultur, Wissenschaft.

Trialog ist ein Kunstwort; eigentlich genügt Dialog für die Beschreibung einer respektvollen Beziehung egal wie vieler Personen oder Gruppen. Diese Beziehung war und ist unter Erfahrenen, Angehörigen und Profis jedoch so wichtig, dass sich „Trialog“ als Begriff durchgesetzt hat.

Der Trialog im Sinne einer Begegnung als Experten zwischen Erfahrenen, Angehörigen und MitarbeiterInnen des psychiatrischen Hilfesystems („Profis“) ist zugleich Anspruch, Qualitätsmaßstab, Real-Utopie und konkretes Geschehen – in den Psychoseseminaren als Keimzelle des Trialogs, in Trialogforen mit Öffnung für andere Erfahrungen und in weiteren trialogischen Projekten: z.B. Öffentlichkeitsarbeit, Beschwerdestellen, Behandlungsvereinbarungen, Forschung. In Psychoseseminaren ist Veränderung nicht beabsichtigt, aber gerade dadurch wird Entwicklung möglich.

Das Ringen um eine gemeinsame Sprache, ein offenes Psychoseverständnis und eine andere Beziehungskultur steht im Vordergrund. Gerade dies ermöglicht eine andere Wahrnehmung von sich und anderen sowie neue Handlungsoptionen für alle Beteiligten – Therapie ohne Absicht, Familientherapie ohne die eigene Familie, Supervision ohne Bezahlung!

Die Teilnahme an Psychoseseminaren wird nicht verordnet, sondern selbst entschieden, ist unentgeltlich und wird nicht von Kassen finanziert. Das Ringen um einen „herrschaftsfreien Diskurs“ (Habermas 1981) ist bitter notwendig auch und gerade als Vorbild für den psychiatrischen / psychotherapeutischen Alltag. Es ist ein weiter Weg gewesen von 1939, als die Diagnose Schizophrenie, Manie und Depression für viele zum Todesurteil wurde in einem der beschämendsten Kapitel der deutschen Psychiatriegeschichte, bis zum Jahr 2014, als der Gemeinsame Bundesausschuss Psychosen-Psychotherapie zur Pflichtleistung machte. Ein beeindruckender Wandel im Verlauf von 75 Jahren, an dem der Trialog beteiligt war. Und dennoch ist dieser Wandel noch längst nicht selbstverständlich geworden, zumal viele Ausbildungsinstitute für Psychotherapie die Umsetzung verweigern.

Plädoyer für Verschiedenheit

So wie jeder Traum individuell ist, so verläuft auch jede Psychose unterschiedlich. Und so wie jede Psychose eine andere Geschichte erzählt, hat auch die Summe der Erzählungen – und nichts anderes sind Psychoseseminare – jeweils ein anderes Gesicht.

Aus einer einfachen Erkenntnis ist eine Idee und aus der Idee ist eine Bewegung geworden: Die Psychiatrie ist von einem wirklichen Verstehen schizophrener oder affektiver Psychosen und entsprechend auch von einem allgemeingültigen Behandlungsansatz weit entfernt. Psychosen sind nicht einfach Symptome einer fest umrissenen Krankheit, sondern zugleich Ausdruck einer sensiblen Persönlichkeit und einer komplexen Lebenserfahrung. Die Psychiatrie kann sich nur weiterentwickeln, wenn sie die subjektiven Erfahrungen aller Beteiligten wieder stärker berücksichtigt. Dafür müssen wir die bestehenden Sprachbarrieren zwischen Psychoseerfahrenen, Angehörigen und Mitarbeitern der Psychiatrie überwinden. Interessensgegensätze bleiben und dürfen nicht geleugnet werden. Doch auch zum Streiten brauchen wir eine gemeinsame Sprache und eine gleiche Ebene der Verständigung. Eine zu eng verstandene medizinische Wissenschaft und das Machtgefälle großer hierarchischer Institutionen haben uns von beidem weit entfernt. Also müssen wir gemeinsam lernen. In diesem Sinne sind Psychosesemiare Orte gemeinsamen Erzählens, gleichberechtigter Begegnung, wechselseitigen Lernens und offenen Streitens.

Inzwischen gibt es viele dieser Trialogforen in Deutschland und im benachbarten Ausland. Sie verstehen sich als Orte eines »herrschafts-freien Diskurses«. Sie sind Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins von psychoseerfahrenen Menschen und ihren Angehörigen. Diese Form der Begegnung hat inzwischen über die Seminare hinaus große Kongresse geprägt, vor allem den Weltkongress für soziale Psychiatrie 1994 in Hamburg. Das vom Psychoseseminar in Bielefeld entwickelte Instrument der Behandlungsvereinbarung zeigt zudem einen Weg auf, auch den Behandlungsalltag »dialogisch« zu beeinflussen.

Keimzelle dieser Entwicklung war das Psychoseseminar in Hamburg. Aus ihm sind schon die zwei Bücher Stimmenreich und Im Strom der Ideen (s. Literaturverzeichnis) entstanden, die im Ansatz deutlich machen, um was es in Psychoseseminaren geht: um ein freieres Verständnis und eine andere Kultur der Begegnung mit Psychoseerfahrenen. Es geht dabei um mehr Selbstbestimmung und Einfluss sowohl für Menschen mit Psychoseerfahrung als auch ihre Angehörigen. In Psychoseseminaren findet keine Psychotherapie statt! Und dennoch machen Menschen, die sich in wohlwollender Atmosphäre zu ihren besonderen Erfahrungen bekennen und deren Sinn zu ergründen suchen, erstaunliche Entwicklungsschritte – geradezu selbstverständlich wie nebenbei und ohne Absicht. Im Gegensatz zu »psychoedukativen Trainings« wird bei Psychoseseminaren kein einseitiger Wissensvorsprung weitergegeben, sondern der gleichberechtigte Austausch geübt und gepflegt. Erfahrungen werden vermittelt, meist in Form erzählter Geschichten. Und es ist erstaunlich, wieviel leichter es ist, einander unabhängig von therapeutischer und familiärer Bindung unvoreingenommen zuzuhören. Die größten Nutznießer sind sicher am Anfang die professionellen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verschiedener Berufsrichtungen und die entsprechend Auszubildenden bzw. Studierenden. Im Nachhinein könnte man sich sogar fragen, wieso es nicht längst selbstverständlich ist, die persönliche Wahrnehmung und das persönliche Erleben der psychoseerfahrenen Menschen systematisch zu nutzen, um zu einem besseren Verständnis und einer besseren Konzeption von Hilfen zu gelangen.

Seminar als bunter Garten

(von Dorothea Buck)

Das lateinische Wort »Seminar« kommt von semen = Samen und heißt auf deutsch »Pflanzstätte«. Dieses Bild trifft auf besonderer Weise auf die am Psychoseseminar beteiligten drei Gruppen zu.

Die Fachleute bieten in der Regel die »Stätte«, die Räume in den Universitäten oder in den Hochschulen, Volkshochschulen, Gemeindehäusern, Sozialpsychiatrischen Kontaktstellen und Krankenkassen an.

Die Moderatoren und Moderatorinnen betätigen sich in diesem Bild vielleicht am ehesten als ökologische Gärtner, denn es gibt im Psychoseseminar keine Unkräuter, sondern nur anerkannte Wildkräuter – etwa in Form von Erlebnissen der Psychoseerfahrenen.

Die Angehörigen stehen mehr für das nährende Gemüse. Wenn sie auch zuweilen ihre Not mit den Wildkräutern haben, so akzeptieren sie sie doch mit Achtung und Respekt, wie übrigens alle Gruppen untereinander.

Dieser farbige und in den besten Psychoseseminarzeiten vielfältig blühende Garten auf dem Boden der Psychiatrie ist etwas absolut Neues, denn in der Regel gilt in den Psychiatrien nur die schnurgerade Norm, die allen Wildwuchs rigoros – auch gegen den Willen der Betroffenen – beschneidet.

Hans Wühr

Parallelen zwischen Traum und Psychose als Hilfe zum Psychose-Verständnis

Eine besonders eindrückliche Beschreibung des subjektiven Psychoseerlebens und Erklärungsversuchen im Kontext der eigenen Biographie stammt von Dorothea Buck, die zusammen mit Thomas Bock die trialogische Bewegung begründet hat.

Ziele des Trialogs

Die folgenden Ziele sind als unvollständige Sammlung zu verstehen. Manche sind vorrangig und ergeben sich quasi von selbst in dem Augenblick, in dem ein Dialog der drei Gruppen zustande kommt. Andere wiederum sind Fernziele einer Emanzipationsbewegung, von der die Psychoseseminare als Ganzes einen bedeutsamen Teil darstellen. Einige beziehen sich mehr auf die Position der drei Gruppen untereinander, andere mehr auf die Inhalte, die verhandelt werden. Einige betreffen die Psychiatrie als Praxis, andere als Wissenschaft. Manche sind selbstverständlich, andere vielleicht sogar umstritten.

Psychoseeminare sollen:

  • einen fachlichen Erfahrungsaustausch zwischen Psychoseerfahrenen, Angehörigen und professionellen Mitarbeiter:innen ermöglichen,
  • der subjektiven Perspektive Raum geben, das Sprechen über das Erleben in der Psychose fördern, anstatt vorschnell Ohnmacht, Schuldgefühle und Verantwortung einseitig und erdrückend zuzuordnen,
  • eine gemeinsame Sprache zu entwickeln helfen anstelle einer Sprache der Verfügung und der Zuordnung,
  • eine gleichberechtigte Begegnung als Subjekte üben anstelle der üblichen einseitigen Behandlung von Objekten,
  • Psychoseerfahrene und Angehörige als Experten in eigener Sache anerkennen anstelle einer unhinterfragten professionellen Hierarchie,
  • die Position der Psychoeerfahrenen und der Angehörigen auch im Psychiatrie-Alltag stärken (z.B. durch Behandlungsvereinbarungen), die übliche Machtverteilung hinterfragen (Empowerment),
  • Ansätze von Selbsthilfe des einzelnen und in der Gruppe auch bei Psychosen sichtbar werden lassen und stärken, Selbsthilfe-Netzwerke initiieren und stützen,
  • verschiedene Hilfeansätze – wie Psychotherapie und Pharmakotherapie – anhand konkreter Erfahrungen offen und kritisch hinterfragen,
  • unabhängig von persönlicher Bindung, familiärer Abhängigkeit und professioneller Verantwortung eine vollständigere Wahrnehmung der Psychoseerfahrung erlauben,
  • Psychoseerfahrenen und Angehörigen auch in der Aus- und Weiterbildung eine eigenständige Position als Lehrende vermitteln, anstatt sie als Objekte von diagnostischen Übungen und Behandlungsvorführungen zu missbrauchen,
  • die Psychiatrie als »empirische« Wissenschaft fördern, indem sie sich wirklich auf den Erfahrungen aller Beteiligten gründet,
  • ein Forum für verschiedene theoretische Ansätze schaffen und einen offenen Diskurs ermöglichen anstatt, wie im Wissenschaftsbetrieb üblich, nur die jeweils vorherrschende Meinung abzubilden,
  • die Psychose als sinnhafte Erfahrung, als Ausdruck einer sensiblen Persönlichkeit und einer individuellen Biographie erkennen; sie als Ausdruck eines Entwicklungsprozesses oder einer Entwicklungsstörung diskutieren und nicht ausschließlich medizinisch als Symptom einer festumrissenen Krankheit,
  • die Kategorie des Sinnes (analog der Logotherapie von Victor Frankl) auch in die Diskussion der Behandlung von Psychosen einführen,
  • die Psychose als besondere menschliche Grenzerfahrung begreifen, sie nicht nur pathologisch, sondern anthropologisch erforschen,
  • bei dem Versuch, die psychotische Erfahrung existentiell zu fassen, auch andere Wissenschaften wie Philosophie, Religion, Geschichtswissenschaften und Ethnologie heranziehen,
  • das Bild der Öffentlichkeit von »Schizophrenien« und »Manien« und »Depressionen« erweitern, entzerren und die Person, das Menschliche hinter dem Symptom sichtbar machen.

Ziel eines trialogischen Netzwerks ist die Stärkung der Auseinandersetzung zwischen den drei beteiligten Erfahrungsperspektiven. Vernetzen passiert nicht ohne aktives Sich-Beteiligen. Vernetzen heißt mitmischen, sich selbst helfen, aus der Passivität und Ohnmacht heraus zu kommen, der professionellen Übermächtigung selbstbestimmt entgegenzutreten. Vernetzen heißt Wünsche und Forderungen im „Netz“ – wie auf dieser trialogischen Website – zu artikulieren. Vernetzen zielt darauf, gegenseitig und für sich selbst Bedürfnisse und Ansprüche klar zu stellen und nach Wegen zu suchen, sie durchzusetzen. Verbesserungen im Bereich der Begleitung von Menschen in Krisen braucht Stimmenreichtum, der deutlich macht, wohin die Entwicklung gehen soll.

In den letzten drei Jahrzehnten sind Selbsthilfegruppen sowie Interessenvertretungen aus Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen entstanden, die Wirkung zeigen. Die Professionellen sind vorsichtiger und respektvoller geworden. Verständnisgräben zwischen Nutzern und Dienstleistern psychiatrischer Hilfen werden deutlicher benannt. Es finden sich erste Brücken: Der Umgang wird weniger entmündigend, die Achtung vor dem individuellen Selbstmanagement ist gewachsen. Dennoch werden die Konzepte von Empowerment, Selbstwirksamkeit, Recovery, Salutogenese, Selbstvertrauen und Widerstandsfähigkeit (Resilienz / Hardiness) mehr beschworen als praktisch genutzt. Hier könnte die Vernetzung der trialogischen Erfahrungen weitere Entwicklungsperspektiven eröffnen.

Paradoxe Wirkung des Psychoseseminars

Hans Wühr

In wohlwollender Umgebung über sich zu sprechen, dabei Psychose- und Lebenserfahrung selbstverständlich zu verknüpfen, hilft, die Erfahrung in das eigene Selbstverständnis und die eigene Lebensgeschichte zu integrieren, sie nicht als nicht-zugehörig abzuspalten oder sogar zu leugnen. Das Psychoseseminar spannt einen Raum auf, in dem verschiedenste Erfahrungen – gut oder schlecht – ernstgenommen, akzeptiert und ihre emotionalen Konsequenzen aufgefangen und von der Gruppe gehalten werden können. Vielleicht gerade weil keine Veränderung intendiert ist, wird sie möglich – Therapie ohne Absicht.

Dieser Prozess ist nicht beschränkt auf eine bestimmte Perspektive:

So kann das Seminar eine Atmosphäre schaffen, in der Menschen über sich und ihre Psychoseerfahrung sprechen, die sich das bisher im therapeutischen Kontext nicht trauten. Solch eine Narration hat Kraft und ist ein wesentliches Element von Psychotherapie.

Ohne familiäre Abhängigkeit kann es Erfahrenen und Angehörigen leichter fallen, sich in die Rolle des anderen zu versetzen. Man traut sich, andere Dinge zu fragen, und kann die Wahrnehmung der anderen Perspektive manchmal besser annehmen, wenn sie von einer fremden Person vorgetragen wird, ob Erfahrener oder Angehöriger. Auf dem Umweg der Fremdheit gelingt die Verständigung – Familientherapie ohne Familie.

Auch Therapeut:innen bietet das Zuhören ohne die Bürde der Verantwortung die Chance, eine vollständigere Wahrnehmung und mehr Gelassenheit im Umgang mit ungewöhnlicher Erfahrung zu erlangen – dreifache (aus drei Perspektiven) Supervision ohne Bezahlung.

Lernende und Studierende werden durch die bunte Vielfalt subjektiver Perspektiven rechtzeitig verunsichert, bevor Diagnosen und Standardprogramme zu viel Eigenmacht bekommen.

Um das leisten zu können, braucht das Psychoseseminar bei aller Dringlichkeit und Schwere der Themen auch Leichtigkeit und Humor. Paradoxerweise gelingt das oft gerade deshalb, weil Therapie und Veränderung nicht das erklärte Ziel sind. Sinnsuche geschieht im Psychoseseminar nicht so sehr auf individueller Ebene, sondern auf einer eher grundsätzlichen, vielleicht auch manchmal »philosophischen« Ebene. So wird dort Psychose verstanden als Ausdruck eines Ringens um Eigenheit, als Lösungsversuch vorausgegangener Konflikte und Krisen, als Rückgriff auf frühere Entwicklungsstufen, als verzweifelter Versuch der Angstreduktion. Dieser Ansatz ist für viele ermutigend und hilfreich.