Evaluation

Psychoseseminare oder Trialogforen sind keine Behandlungsintervention, brauchen keine Indikation. Jede/r entscheidet selbst, zu kommen und zu gehen. Eine klassische Evaluation passt nicht. Wer gerade dabei ist, Subjekt seiner Erfahrung zu werden, will nicht gleich wieder Objekt fremder Betrachtung sein. Trotzdem hat diese Form der Begegnung eine Wirkung, kann Veränderung gerade da geschehen, wo sie nicht angezielt wird. Und inzwischen gibt es auch Formen und Methoden partizipativer Forschung, die das komplexe Geschehen abbilden helfen. So wissen wir jetzt, dass Psychoseseminare

  • Menschen mit sehr verschiedener Psychoseerfahrung erreichen,
  • Selbstwirksamkeit und Stigmaresistenz fördern,
  • Soziale Wahrnehmungen bei allen drei Gruppen verbessern,
  • und vieles mehr.

Einige Ergebnisse finden Sie hier. Berichten Sie weitere, die wir gerne hier aufnehmen.

Stigmaresistenz und soziale Wahrnehmung – Wirkung des Psychoseseminars

Eine systematische Evaluation von Psychoseseminaren ist nicht einfach; wer gerade dabei ist, Subjekt des Geschehens zu werden, will nicht im nächsten Moment Objekt von Forschung sein. Es gibt etliche qualitative Studien, die den subjektiven Wert des Trialogs unterstreichen, sowie quantitative Bestandsaufnahmen, die die Repräsentativität der Zusammensetzung verdeutlichen. Die folgenden Aussagen lassen sich auch mit quantitativen Daten belegen:

  • Psychoseseminare erreichen Menschen mit erster und wiederholter Psychoseerfahrung (als Betroffene und Angehörige), mit und ohne Psychiatrie-Erfahrung, viele mit viel Eigensinn. Es herrscht keine Selektion.
  • Sie verbessern die Stigmaresistenz und die soziale Wahrnehmung bei allen drei Gruppen.
  • Trialogische Antistigmaprojekte reduzieren soziale Distanz, stereotype Wahrnehmungen und negative Gefühle bei SchülerInnen, bei der Polizei, beim Strafvollzug, in der Jugendhilfe, bei Medizinberufen etc.
  • Produkte des Trialogs wie Beschwerdestellen, initiale Familienkonferenzen und Behandlungsvereinbarungen u.a. sind wertvolle Angebote sozialer Psychiatrie – abhängig von der Qualität des Prozesses.

Vielfalt und Unterschiede der Psychosesemiare

Zur Zeit der Untersuchung gibt es in Deutschland über 70 Psychoseseminare; weitere existiere im benachbarten Ausland wie in Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Polen und Schweden. Die meisten Seminare entstanden kurz vor und nach dem Weltkongress für soziale Psychiatrie »Abschied von Babylon« 1994 in Hamburg – die Zahl nimmt seitdem stetig zu. Die geographische Verteilung zeigt eine Häufung in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. In den neuen Ländern gibt es einige wenige Seminare.

In 43 Seminaren fand eine kleine Untersuchung mit Befragung der Moderatoren und einiger Teilnehmer statt. Auf deren Antworten bezieht sich die folgende Darstellung.

  • Initiative: Angeregt wurden die meisten Seminare durch die Initiative von Psychoseerfahrenen oder Angehörigen, aufgrund eines »eindeutigen Bedarfs«, durch Vorträge oder Literatur (vor allem Stimmenreich), durch den Weltkongress für soziale Psychiatrie oder durch Workshops des DPWV und der DGSP.
  • Veranstaltungsort: Nahezu alle Psychoseseminare finden in Räumen außerhalb der Psychiatrie in Räumen, die eher der Fortbildung als der Therapie dienen, statt. Genannt werden: Seminarräume einer Akademie, Volkshochschule, Fachhochschule oder Universität, Versammlungsräume einer Kirche, eines Bürgertreffs, einer Schule, eines Selbsthilfezentrums, eines Seniorentreffs oder einer Tagesstätte, auch die Kantine einer AOK-Geschäftsstelle wurde genannt.
  • Zeitrahmen: Die meisten Seminare finden in den Abendstunden eines Wochentages, meist in festem Rhythmus von wöchentlich bis monatlich statt. Viele legen entsprechend der Semesterplanung längere Pausen ein. Einige Seminare führen auch Blockveranstaltungen über ein Wochenende oder eine ganze Woche durch.
  • Moderation: In über der Hälfte der Seminare gibt es zwei oder noch mehr Moderatoren. In diesem Fall sind in der Regel auch mehrere Gruppen an der Moderation beteiligt. Ansonsten überwiegen professionelle Mitarbeiter, insbesondere Psychologen und Sozialpädagogen. Es gibt aber auch Seminare, die von Psychiatern, Psychotherapeuten, Pastoren oder Journalisten moderiert werden.
  • Binnenstruktur: In fast der Hälfte der befragten Seminare wird die Themenplanung zu Semesterbeginn gemeinsam vorgenommen. Ein Drittel sammelt Fragen zu Beginn der Einzelveranstaltung. Immerhin 9 Seminare haben eine paritätisch besetzte Vorbereitungsgruppe. Eine quantitativ und qualitativ gleichberechtigte Teilnahme wird von 36 der 43 befragten Moderatoren bestätigt. Einige sprechen dennoch von einer zeitweiligen Dominanz der Psychoseerfahrene (13), der Angehörigen (7) oder der Profis (3). Wechselseitige Fragen zwischen den drei Gruppen stehen im Vordergrund. Die häufigsten Themen sind Tabelle 1 zu entnehmen.
  • Zusammensetzung: In allen Psychoseseminaren findet ein Dialog von mindestens drei Gruppen, also Psychoseerfahrenen, Angehörigen und Mitarbeiter statt. In einigen Seminaren verstehen sich Bürgerhelfer, interessierte Öffentlichkeit und Studenten als zusätzliche Gruppen. In einigen Seminaren trennen sich die Gruppen zwischenzeitlich, um sich dann wieder auszutauschen. Zwei Drittel nehmen oft oder fast immer teil. Insgesamt sind Frauen in der Überzahl – mit deutlichen Unterschieden zwischen den drei Gruppen. (Die Angaben beziehen sich auf die Stichprobe, die per Fragebogen antwortete). Psychose-Erfahrene: Über 80% haben mehrmals oder häufiger Psychosen erlebt. Das Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren. Die Geschlechtsverteilung ist fast ausgeglichen. Angehörige: Der Altersdurchschnitt liegt bei fast 50 Jahren. Fast 4/5 sind Frauen. Bei überproportional vielen ist der Erkrankte ein Sohn. Bei immerhin 13% nahm auch das erkrankte Familienmitglied teil. Mitarbeiter: Fast 3/4 haben drei und mehr Berufsjahre. Das Durchschnittsalter beträgt 40 Jahre. Frauen und Männer verteilen sich im Verhältnis von 6:4.
  • Motivation der Teilnahme: Aus einem umfangreichen Fragebogen zur Motivation der Teilnahme ließen sich die nachfolgenden drei Faktoren abstrahieren. Diese drei Faktoren hatten für alle drei Gruppen Bedeutung, doch in etwas unterschiedlicher Gewichtung: Der 1. Faktor hatte vor allem für die Psychoseerfahrenen, der 2. Faktor für die Profis und der 3. für die Angehörigen Gewicht.
    • aktive Teilnahme, Veränderung der Verhältnisse
    • Reflexion, Erkenntnisgewinn
    • Gemeinschaftserleben, Lernprozesse
  • Wichtige Fragen für die Gesprächsrunden:
    • Was hilft mir in einer Psychose?
    • Wie sind die Beziehungen der drei Gruppen zueinander?
    • Was ist eine Psyche, und wie gehen Menschen mit ihr um?
    • Was verstehen Angehörige und Profis unter einer Psychose?
    • Haben Psychosen einen Sinn?
    • Wie sollte ein Psychose-Therapeut sein?
    • Welches Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnis haben wir?
    • Welche Behandlungsmethoden werden als hilfreich erlebt?
    • Wie ist der Umgang mit psychotischem Erleben für Außenstehende?
    • Welche Erfahrungen gibt es mit Medikamenten?
    • Welche Erfahrungen gibt es mit Zwangsmaßnahmen?
    • Wie ist der Umgang mit Krankheit und mit gesunden Anteilen?
    • Welche Frühwarnzeichen, welche Möglichkeiten zur Prophylaxe, welche Heilungschancen gibt es?
    • Wie steht es mit der beruflichen Rehabilitation?
    • Welche Sorgen haben Angehörige und professionell Tätige?
    • Welche juristischen Fragen spielen eine Rolle, und wie ist Selbsthilfe möglich?
    • Wie beginnt und wie endet eine Psychose?
    • Welche Erfahrungen haben Erfahrene mit der Maltherapie?
    • Gibt es ein religiöses Erleben in der Psychose?
    • Was sollte sich in der Psychiatrie ändern?
    • Was ist Normalität?
    • Welche Erfahrungen gibt es mit Suizidalität?
    • Welche Medikamente sind hilfreich?
    • Welchen Zusammenhang kann es zwischen Psychose und spirituellen Krisen geben?
    • Welche Einschränkungen erfährt man durch die Erkrankung?
    • Wie kann eine Begleitung während der Psychose aussehen?
    • Welche Patientenrechte gibt es?
    • Welche Gefühle der Profis spielen eine Rolle?
    • Gibt es einen Zusammenhang von Psychose und Gewalt?
    • Welche Schuld und Schuldgefühle gibt es in den drei Gruppen?
    • Gibt es männliche und weibliche Psychosen?
    • Welche Misshandlungs- und Gewalterfahrungen haben Psychose-Erfahrene?
    • Was ist das Verletzlichkeits-Stress-Modell?
    • Erfahrungen mit stationärer Versorgung, Klinikalltag und Krisenintervention?
    • Welche Erfahrungen gibt es mit Zwangsfixierung und Elektroschocks?
    • Wie sieht eine Behandlungsvereinbarung aus?
    • Ich habe meine Krankheit hinter mir gelassen – was bedeutet das?
    • Wie komme ich zum Kern meiner Erkrankung?
    • Was können wir in dieser Gesellschaft erreichen? Was sind unsere Stärken?
    • Wo ist in unserer Stadt Platz für Menschen in Ausnahmezuständen?
    • Chancen und Grenzen der Entwicklung bzw. Reifung in und durch Psychosen
    • Was bedeuten die Etiketten »heilbar« und »unheilbar«?
    • Ist der Behandlungsvertrag ein Beitrag zur Vertrauensbildung?
    • Was bedeutet Chronifizierung?
    • In welchem Spannungsfeld stehen Profis, und wie gehen sie damit um?
    • Welche sexuellen Wünsche gibt es in, trotz und durch die Psychose?
    • Welche Erfahrungen gibt es mit der Balance von Nähe und Distanz in der Abhängigkeit von Erfahrenen und Angehörigen?
    • Welchen Sinn und Un-Sinn haben Behandlungsversuche ohne Neuroleptika?
    • Was passiert in dem Moment, in dem die Realität kippt?
    • Welche Funktion hat die Psychose in der Familie?