Psychoseseminare in der Praxis
Wie funktionieren Psychoseseminare
Psychoseseminare sind offene Gruppen und finden in festgelegtem Rhythmus statt. Jede/r Interessierte kann teilnehmen. Jede/r kann anonym bleiben. Themen und Inhalte der Gespräche bestimmen die Gruppe. Die Moderation sorgt dafür, dass alle Perspektiven zur Geltung kommen und im Verlauf Zeit für eine angemessene Pause bleibt. Termine und Themen werden in regelmäßigen Abständen in den regionalen Medien bekannt gemacht.
Die Gruppen treffen sich an unterschiedlichen Orten: häufig in den Räumen von Volkshochschulen oder Bildungsträgern, in gemeinde-psychiatrischen Einrichtungen, aber auch in Kirchengemeinden.
Die meisten Gruppen haben eine/n feststehende/n Moderator/in, andere werden von einem Team moderiert, das mitunter auch trialogisch besetzt ist. Wieder andere wechseln sich in der Moderation ab.
Der Wunsch nach Veränderung und das wechselseitige Interesse sind Motor des Gesprächs. Die Moderation ermutigt zu direkten Fragen zwischen den Gruppen und fokussiert auf Themen, die für alle bedeutsam sind: z.B. „Angst“, „Hilflosigkeit“ oder „Ohnmacht“ nicht nur der Psychose-Erfahrenen, sondern auch der Angehörigen und der Professionellen.
Meistens braucht der Trialog nur eine kurze Einführung durch die Moderatoren, danach knüpfen sich die Gesprächsfäden in der Gruppe „wie von selbst“. Gerade die Selbstverständlichkeit des Gesprächsflusses macht den Reichtum des Trialogs aus.
Wenn Sie Interesse haben, an einem Psychoseseminar teilzunehmen, wenden Sie sich bitte an die jeweiligen Ansprechpartner in Ihrer Region, um Einzelheiten, Termine und Themen zu erfragen (siehe unter Adressen).
Was bedeutet trialogischer Austausch?
Die innere Haltung ist es, die es jedem von uns ermöglicht, in einer offenen Runde vertrauensvoll über das eigene Erleben zu sprechen und den Erlebnissen der anderen zuzuhören und dabei:
- zu akzeptieren, dass jeder Mensch über eigene Wahrheiten verfügt;
- auszuhalten, dass Wahrheiten in Widerspruch zueinanderstehen dürfen;
- sich respektvoll auf gleicher Augenhöhe zu begegnen;
- fremde Lebenswege und Erfahrungen gelten zu lassen und schätzen zu lernen;
- auch strittige Auseinandersetzungen respektvoll zu führen;
- eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, um miteinander zu lernen;
- Toleranz zu üben gegenüber schwer verstehbaren und befremdlichen Vorstellungen, Gefühlen, Ansichten, Entscheidungen und Handlungen von Menschen, die aus dem Rahmen dessen herausfallen, was gemeinhin als „normal“ gilt;
- Sensibilität für das subjektive Leiden anderer zu entwickeln;
- sich an die Seite von Menschen zu stellen, die in unserer Gesellschaft aufgrund ihrer Besonderheiten ausgegrenzt, stigmatisiert oder benachteiligt werden;
- Menschen zu ermutigen, ihren eigenen, eigen-sinnigen, unkonventionellen, aber selbst bestimmten Lebensweg zu gehen;
- jedem Menschen die Entscheidung zu überlassen, ob, wann und in welcher Weise ihm/ihr die Auseinandersetzung guttut;
- allen Teilnehmenden die Möglichkeit zu lassen, sich durch Anonymität zu schützen;
- anzuerkennen, dass auch Zuhören hilfreich sein und die Selbstauseinandersetzung fördern kann; es bleibt jeder/jedem überlassen, ob und zu welchem Zeitpunkt sie oder er sich äußert;
- gegenseitiges persönliches Befragen nur dann als sinnvoll zuzulassen, wenn zugleich das Motiv des / der Fragenden für alle verständlich gemacht werden kann;
- nach dem Motto zu handeln: Je mehr Erfahrung in die trialogische Gesprächsrunde hineinkommt, desto mehr nimmt jede/r mit;
- miteinander zu sprechen und nicht übereinander zu reden.
Was nehmen die Teilnehmer mit?
Das Psychoseseminar wird subjektiv sehr verschieden empfunden, das hängt nicht nur von jeweils individuellen Erfahrungen ab, sondern auch von der Unterschiedlichkeit der Seminare selbst. Wir wollen hier nur einige wenige Äußerungen zitieren, die aber doch die Bandbreite verdeutlichen (s.u.).
Aus der Praxis des Psychoseseminars Potsdam gibt es vielseitige Zitate und Protokolle zu den unterschiedlichsten Themen: Was ist eine Psychose? Psychose: Wahn und Sinn, Psychose und Behandlung, Psychose und Beziehungen, Psychose und Gewalt, Psychose und Arbeit, Psychose – und dann? Psychose und Stigma, Psychose und Trialog, Psychosen und Partnerschaften, Symbole und Rituale im Psychoseerleben.
»Als ich die Einladung zum Psychoseseminar erhielt, war ich in Brandenburg erst einige Wochen zu Hause. Insofern war ich überrascht und erfreut zugleich, da ich eine Gelegenheit zu interessanten Begegnungen vermutete, war aber vor allem unsicher, da ich mit einen »Psychoseseminar« weder einen konkreten Inhalt noch eine klare Vorstellung verbinden konnte.
Der Beginn der Arbeitsgruppe war für mich dann auch erst mal durch vorsichtiges Abtasten, durch die Neugier auf das, was in so einem Seminar passiert, aber auch durch den Versuch gekennzeichnet, eine angemessene Position für mich zu finden. Mit dieser Anfangshaltung war ich wahrscheinlich unter den Teilnehmern nicht allein. Außerdem war der Arbeitsauftrag für die gesamte Gruppe erst noch abzustimmen, die Erwartungen und Befürchtungen der Teilnehmer zu klären. Über meine eigene Rolle war ich mir nicht im Klaren: Was erwarten Kollegen, Psychiatrieerfahrene und Angehörige von mir als Nervenarzt und Psychotherapeut? Natürlich wäre mir zunächst am liebsten gewesen, einen eindeutigen »Auftrag« zu haben, innerhalb dessen ich hätte arbeiten können.
In den folgenden Gesprächsrunden wechselte die Situation dann häufiger:
Zeitweise fühlte ich mich deutlich als Professioneller angesprochen, besonders wenn es um Fragestellungen der Behandlungsstrategie, rechtliche Probleme und Medikamente ging. Zu anderen Zeiten war ich nur menschlich berührt, wenn etwa in kritischen Auseinandersetzungen mit den Lebens- und Behandlungsbedingungen auch das Erleben und das Leiden der Betroffenen deutlich wurde oder wenn wir alle in der Gruppe in gemeinsamen Gefühlen von Wut, Angst und Schrecken angesichts der Verfolgung psychisch Kranker in der Nazizeit einig waren.
So bleibt für mich das Psychoseseminar das, als was es begonnen hat: ein Experiment, ein Wagnis, die von der Psychose in irgendeiner Weise Betroffenen oder in der Psychiatrie auf der einen oder anderen Seite Erfahrenen in einem Raum, an einem Tisch und zu einem gemeinsamen Gespräch über ihre Erfahrungen zu versammeln. Es ist ein Experiment mit dem Ziel, eine gemeinsame Sprache zu finden in Bereichen, in denen Sich-Aussprechen einerseits lebenswichtig ist, in denen es aber andererseits besonders schwer ist, sich in verstehbaren Worten auszudrücken.«
»Ich bin sehr dankbar für die Erfahrungen im Psychoseseminar. Ich habe in ganz neuer Weise erfahren dürfen, welche tiefen seelischen Erfahrungen, aber auch Konflikte jeder Psychoseerfahrene durchzustehen hat. Gleichzeitig war es beglückend, von den Teilnehmenden zu hören, dass dies für alle die erste Möglichkeit war, über ihre Erfahrungen zu sprechen, und dass sie ihnen neuen Mut und Zuversicht schenkte.«
»Ich war letzte Woche im Hamburger Psychoseseminar an der Uni-Klinik. Ich weiß nicht, ob ich je in einem so großen Gremium von über 70 Teilnehmenden ein so echtes Zuhören und eine solche Offenheit der Aussagen erlebt habe. Es war nicht zu vergleichen mit den oft etwas peinlichen Outings der im Fernsehen gezeigten Gruppensitzungen. Da sprachen rund 20 Leute aus einer für mich verblüffenden Unversehrtheit ihres Ichs über ihre Verrücktheit.«
»Anfangs war ich sehr überrascht, dass so viele Psychiatrieerfahrene kamen. Aus irgendeinem Grund hatte ich geglaubt, sie hätten eher eine Scheu, was sie erlebt und erfahren haben, zu berichten. Es war dann aber so, dass die Psychiatrieerfahrenen die größte Teilnehmergruppe waren und die meisten Sitzungen dominierten.
Ich hatte am Anfang große Mühe, ›normal‹ zu kommunizieren. D.h., ich habe gemerkt, dass ich im Umgang mit den im Seminar vertretenen Gruppen von Menschen ganz bestimmten Kommunikationsstrukturen entwickelt hatte: Ich höre zu, nehme auf, ordne, werte und verwerte das alles und sage dann etwas Erhellendes, Klärendes, Informatives, vielleicht auch Stützendes, kurz, ich kommuniziere aus der Profi-Perspektive. Nachdem ich das festgestellt hatte, sagte ich erst einmal gar nichts mehr oder wenig, wie die anderen Profis auch, denen es wohl ähnlich ging. Oft ging es um das Erleben in der Institution Psychiatrie. Damit hatten wir Profis ebenfalls unsere Schwierigkeiten. Wir gerieten leicht in die Defensive. Eine weitere intensive Situation war für mich, als Aggression und Gewalt in der Psychose sowie in der Psychiatrie zum Thema wurden.
Immerhin haben wir angefangen, gemeinsam zu überlegen, wie es in der Psychiatrie besser werden könnte – darin sehe ich eine ganz große Möglichkeit des Psychoseseminars, sozusagen ein politisches Potential: im gemeinsamen Gespräch, im offenen Austausch, in der Entwicklung entsprechender Ziele und im gemeinsamen Handeln.«
»Für mich gab es im Psychoseseminar eine ganze Reihe wichtiger Erkenntnisse und Lerninhalte:
- Die Psychoseseminare sind das erste Gremium, in dem sich psychiatrisch Tätige mit Betroffenen und Angehörigen erkrankter Menschen wirklich auseinandersetzen. Es entstand dadurch ein Ich-Wir-Gefühl. Jeder kann den anderen vertrauen, dass das Gesagte innerhalb der Gruppe bleibt.
- Der Austausch der Gedanken, Erfahrungen und Erlebnisse war sehr realitätsnah.
- Es fand ein direkter Dialog bzw. Trialog statt (keine Meta-Kommunikation).
- Jedem Teilnehmer wurde eine eigene Kompetenz zugesprochen. Dadurch wurden Anschuldigungen und Rechtfertigungsversuche vermieden.
- Es fand ein Abbau übergroßer eigener Schuldgefühle statt, da trotz aller Verschiedenheit nach Alter, Konfession, Schulbildung, Ausbildung, Beruf viele in der Gruppe ähnliche, für alle nachvollziehbare Erfahrungen machten.
- Macht- und Ohnmachtsgefälle wurden uns bewusst. Gefragt wurde beim Begriff »Hilflosigkeit« danach, wer wen wie hilflos macht.
- Eigene Erfahrungen und Erlebnisse wurden relativiert.
- Das Seminar ist eine Übung für Zuhören, Geduld, Gelassenheit, Nachsicht, Toleranz.
- Im Psychoseseminar bekam ich vieles vermittelt, was mich persönlich zum Nachdenken über meine persönliche Entwicklung gebracht hat.«