Vision

Weitere Entwicklung der Psychoseseminare

Die Idee des Psychoseseminars als Forum gleichberechtigter Begegnung und wechsel-seitigen Lernens findet immer mehr Zuspruch. Mit Freude darüber und ein bisschen Selbstironie deutet folgendes „Visionsbild“ an, welcher Weg noch vor uns liegt:

  1. Psychoseerfahrene, Angehörige und Psychiatrie-Mitarbeiter (die »Profis«) lassen immer mehr Psychoseseminare entstehen. Sie nutzen sie, um Vorurteile abzubauen, neue Erkenntnisse zu gewinnen und neue Umgangsweisen zu üben sowie eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. All das ist Voraussetzung, um die Psychiatrie bedürfnisnäher zu gestalten.
  2. Dem Charme der Bewegung kann sich kaum eine Einrichtung entziehen. In jedem Krankenhaus, in jeder Abteilung, die auf sich hält, gibt es ein Psychoseseminar. Es wird bei konzeptionellen Fragen zu Rate gezogen, dient der Aus- und Weiterbildung und der Qualitätssicherung. Qualitätssicherung wird zu einer Frage von Demokratie.

Hildegard Wohlgemuth

  1. In vielen verschiedenen Ausbildungsstätten nimmt man (gegen Honorar) nun zu gerne die Hilfe von Psychoseerfahrenen und Angehörigen in Anspruch. Es beginnt ein grundlegendes Umdenken im Verständnis von Psychosen und bei der Bewertung dessen, was hilfreich ist.
  2. Öffentliche Trialogforen an Volkshochschulen sowie gemeinsame Presseseminare beginnen, auch das öffentliche Bild von Psychosen zu verändern. Bei Berichten von Journalisten steht nun das subjektive Erleben im Vordergrund. Statt der ausschließlichen Wahrnehmung von Defiziten rückt nun die besondere Verletzlichkeit und Kreativität psychoseerfahrener Menschen in den Vordergrund.
  3. Die Idee des gleichberechtigten Miteinanders und offenen Aushandelns unterschiedlicher Interessen beeinflusst auch den psychiatrischen Alltag. Die Positionen von Angehörigen und Patienten finden mehr Gehör – je nach Wunsch in gemeinsamen oder getrennten Gesprächen. Ihre Erfahrungen fließen selbstverständlich in die Behandlung mit ein. Den jeweiligen Umständen entsprechend sind Behandlungsvereinbarungen ausgehandelt worden, mit deren Hilfe Betroffene in ruhigen Zeiten auf Wunsch Einfluss auf die Art ihrer Behandlung nehmen können.
  4. Die Behandlung selbst hat sich radikal verändert. Innerhalb und außerhalb von Kliniken stehen für akute Krisen, die mobil und ambulant nicht aufzufangen sind, überschaubare und Ruhe vermittelnde Rückzugsräume bereit. Auf Wunsch ist auch für nahe Bezugspersonen Platz, auf Wunsch sind persönliche Ressourcen und klinische Hilfeangebote eng verzahnt. Eine therapeutische Begleitung, die nicht ständig wechselt, hilft, sich behutsam wiederzufinden und neu zu orientieren. Es geht dabei nicht um schnellstmögliche Veränderung um jeden Preis. Die Psychose wird verstanden als verschlüsselter Zugang zu den inneren Konflikten eines Menschen. Psychiatrie und Psychotherapie sind eng zusammengewachsen und mühen sich, Menschen in Krisen vollständig wahrzunehmen. Die Kategorie des Sinns menschlichen Handelns (auch in Psychosen) ist aus therapeutischen Konzepten egal welcher Schule nicht mehr wegzudenken.
  5. Die Psychiatrie ist auf dem Weg zu einer wirklich empirischen Wissenschaft, die an den Erfahrungen der Betroffenen ansetzt. Um die subjektive Perspektive nicht mehr aus den Augen zu verlieren, wird bei wichtigen Forschungsprojekten das Psychoseseminar des entsprechenden Orts zu Rate gezogen.
  6. Die lange übliche Trennung von sogenannten formalen Störungen und angeblich irrelevanten Inhalten ist als unsinnig und unselig erkannt und aufgegeben worden. Die intensive Beschäftigung mit einzelnen psychotischen Wahrnehmungen, z.B. mit dem Phänomen des Stimmenhörens, hat dazu beigetragen, diese Erfahrungen auch unabhängig vom medizinischen Krankheitsmodell zu diskutieren. Man hat erkannt, dass sehr viel mehr Menschen Stimmenhören oder Trugbilder sehen, als im Rahmen einer Erkrankung fassbar ist.
  7. Langsam wächst das öffentliche Bewusstsein, dass Menschen überhaupt störanfälliger, widersprüchlicher, kreativer und individueller sind, als die Moderne mit einem allzu engem Wissenschaftsverständnis bisher glauben machte.
  8. Von diesem Umdenken profitieren auch diejenigen Psychoseerfahrenen, Angehörigen und Profis, die aufgrund besonderer Schwierigkeiten und Umstände im ersten Anlauf keinen Zugang zu Psychoseseminaren und zur Idee des Trialogs gefunden hatten. Entscheidend ist für sie und alle anderen eben nicht die formale Institution »Psychoseseminar«, sondern die inhaltliche Idee/Vision einer größeren Akzeptanz und Unvoreingenommenheit für seelische Krisen und Erkrankungen in der Öffentlichkeit und eines entsprechend respektvollen, offenen und vorurteilsfreien Umgangs in der Psychiatrie.

Von machen Aspekten dieser Vision sind wir nach wie vor weit entfernt. Doch einige sind zumindest beispielhaft realisiert. So gibt es inzwischen:

  • (zu 3, 4, 8, 9, 10) die UN-Behindertenrechts-Konvention, die den Respekt vor der Besonderheit des Einzelnen und seiner Autonomie-Wünsche zum Maßstab von Versorgung erklärt hat.
  • (zu 4) aus Psychoseseminaren/Trialogforen heraus realisierte Projekte wie Irre menschlich Hamburg oder Irrsinnig menschlich Leipzig, die trialogisch in die Öffentlichkeit hinein wirken, mit Begegnungsprojekten für ein anderes Bild von psychischer Erkrankung werben und für mehr Sensibilität im Umgang mit sich, mehr Toleranz im Umgang mit anderen werben – beides Voraussetzungen für Prävention.
  • (zu 6) beispielhafte alternative Behandlungsprojekte wie SOTERIA-Stationen, integrierte Versorgungsmodelle, die auf ein anderes Milieu, eine andere Beziehungskultur wert legen.
  • (zu 7) Projekte, die den Trialog auch in die Forschung tragen, wie das Hamburger Projekte EmPeeRie (Empower Peers to research), das mit Unterstützung der Reemtsma-Stiftung zehn Betroffenen-kontrollierte Forschungs-projekte förderte und eine Nutzerorientierte Wissenschaftsberatung (NoW) an der Uniklinik Hamburg Eppendorf (UKE) dauerhaft etablierte.
  • (zu 8) den Dachverband Psychosen-Psychotherapie (DDPP), der Schulen-übergreifend integrative psychotherapeutische Konzepte fördert.

Hildegard Wohlgemuth

Ausblick Trialog

Der Trialog ist keine ergänzende oder alternative Herangehensweise an die Versorgung von Menschen mit Krisenerfahrung. Die Einbeziehung der Erfahrenen und Angehörigen in die Entwicklung und Durchführung von Therapiemöglichkeiten ist unabdingbar. Die Begegnung als Experten sollte prägend sein für die künftige Behandlungskultur. Insbesondere vor dem Hintergrund neuer Behandlungsformen wie Hometreatment, der Verlagerung der Akutbehandlung von der Klinik in die häusliche Umgebung, wird trialogisches Denken und Handeln zwingend nötig. Eine offenere Wahrnehmung psychischer Krisen und eine andere Begegnungskultur sind zugleich notwendige Voraussetzung von zuhause-Behandlung wie auch deren folgerichtige Konsequenz.